Nach den ärmsten Ländern geraten nun auch große ölimportierende Entwicklungsländer in den Sog der anhaltend hohen Ölpreise.
Wer in einem Land lebt, das kein eigenes Öl, keine finanzkräftige Regierung und keinen Freund in Caracas hat, muss sich derzeit auf Einiges gefasst machen. Nicaragua ist ein solches. Im September erlebte das das zentralamerikanische Armenhaus eine der schlimmsten Energiekrisen seiner Geschichte. Unregelmäßige Stromabschaltungen von drei oder mehr Stunden stürzten das Land ins Chaos. Die höheren Ölimport- und Gestehungskosten der Kraftwerksbetreiber konnten laut der spanischen Netzgesellschaft Union Fenosa angesichts der kontrollierten Strompreise nicht bezahlt werden. Die Krise wurde noch im September durch Regierungszuschüsse vorläufig beendet; eine dauerhafte Lösung ist nicht in Sicht.
Ähnlich ging es gleichzeitig auf der anderen Seite des Atlantik zu, in Senegal: Shell, Betreiber der Raffinerie in Dakar, forderte vom lokalen Stromversorger Senelec höhere Abnahmepreise und stellte vorübergehend die Ölieferungen ein. Stromengpässe waren die Folge, verschärft durch Hochwasserschäden am Senelec-Netz. Die Regierung überlegt, die Senelec zu subventionieren, um der Bevölkerung nach mehrfachen Treibstoffpreiserhöhungen wenigstens höhere Strompreise zu ersparen. Das Geld dafür ist allerdings nicht budgetiert.
Nicaragua und Senegal gehören zu den ärmsten ölimportierenden Ländern, die sich massenwirksame Subventionen nicht leisten können und am stärksten von den hohen Ölpreisen betroffen sind – die meisten davon in Afrika südlich der Sahara. Die steigenden Ölpreise dürften letzteren bereits 4,4% des Bruttoinlandsprodukts gekostet haben, während die Armutsraten um bis zu 5% gestiegen sein könnten, schätzt eine gemeinsame Arbeitsgruppe des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) und der Weltbank (siehe Tabelle). In Afrika bringt fast jeder Tag eine neue Krisenmeldung: Hohe Treibstoffpreise bedrohen die Fischerei in Senegal und in Namibia, in Sambia fahren Kupferbergwerke aus Energieknappheit die Produktion zurück, steigende Flugtransportkosten gefährden das Exportgeschäft mit Blumen und Frischgemüse aus Ostafrika. Zumindest die Auswirkungen auf die Handelsbilanz wurden bisher durch die gleichzeitig steigenden Preise für die Exportprodukte der betroffenen Länder in Grenzen gehalten.
Größere Entwicklungsländer, die bisher versuchten, ihre Wirtschaften durch Preiskontrollen und Subventionen vor den hohen Ölpreisen abzuschirmen, ziehen nun nacheinander die Notbremse, Thailand bereits vor dem Sommer. Dass die Importkosten daraufhin innerhalb eines Monats um 16% sanken, selbst ohne drastische Sparmaßnahmen, lässt vermuten, wie viel subventionierter Treibstoff zuvor mit Profit außer Landes geschmuggelt wurde. Indonesien warf per 1. Oktober das Handtuch – aus budgetären Gründen: Die Treibstoff- und Kerosinpreise wurden schlagartig um durchschnittlich 126% erhöht. Eine weitere Subventionierung hätte die jährlichen Gesamtkosten auf zehn Mrd. Dollar steigen lassen. Gezielte Zuschüsse sollen nun die Folgen für die ärmsten Bevölkerungsschichten vorübergehend mildern.
Schon Anfang September war Nigeria an der Reihe: Treibstoffpreiserhöhungen von rund 20% lösten wiederholte Protestdemonstrationen aus, an denen sich Millionen Menschen beteiligten. Dabei wird die staatliche Ölgesellschaft NNPC selbst bei den aktuellen Preisen noch jährliche Subventionen von bis zu einer Mrd. Dollar benötigen: Der größte Rohölexporteur des Kontinents hat keine ausreichende Raffineriekapazität und muss Ölprodukte zu Rotterdamer Preisen plus Transportzuschlag importieren.
Die letzten Felsen in der Brandung sind Indien und China: Beide Länder haben bisher die Ölunternehmen gezwungen, die Verluste aus der Differenz zu den Weltmarktpreisen zu schlucken. Anfang September erhöhte die Regierung in Neu Delhi die Preise zwar bereits zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres, bisher wurden aber nur ca. 13% der Preissteigerung am Weltmarkt weitergegeben. Zumindest die chinesischen Ölunternehmen scheinen das Verlustgeschäft noch zu verkraften. Aber in Indien, das 70% seines Ölbedarfs importiert, tickt die Uhr bereits. Schon wird in indischen Wirtschaftsmagazinen vorgerechnet, in wie vielen Monaten welche Ölunternehmen in die roten Zahlen geraten. Nach den nächsten Regionalwahlen, so die Vermutung, wird sich vielleicht auch Indien die Preiskontrollen und Subventionen nicht mehr leisten können oder wollen.
Welche wirtschaftlichen Auswirkungen das hohe Ölpreisniveau noch nach sich ziehen wird, ist ungewiss. Klar ist aber, dass ein nicht geringer Teil der in armen Ländern erzielten Verkaufserlöse für Öl und Ölprodukte in die übervollen Kassen von Ölkonzernen im Norden fließt – und dort, mangels Verwendbarkeit, in Form von Dividenden und Aktienrückkäufen an die EigentümerInnen. Die Dimension dieser widersinnigen Geldflüsse dürfte derzeit im Bereich einiger Milliarden Dollar jährlich liegen. Dass man Überschüsse auch anders nutzen kann, zeigt „Petrocaribe“, der im Juni unterzeichnete Energiekooperationsvertrag zwischen Venezuela und einigen benachbarten Ländern der Karibik. Der Vertrag sichert den Mitgliedsländern den Bezug beschränkter Mengen an Rohöl und Produkten aus Venezuela zu Marktpreisen, aber sehr großzügigen Kredit- und Zahlungskonditionen. Die Kosten trägt die staatliche Erdölgesellschaft PDVSA.
Das ist jedoch ein Tropfen auf den heißen Stein. Als einziger positiver Effekt des Ölschocks bleibt das erhöhte Bewusstsein der Dringlichkeit von Investitionen in inländische, erneuerbare Energiequellen. Am prominentesten, weil technisch erprobt: Der Ersatz von Benzin durch Ethanol (Alkohol) aus Zuckerohr. In Brasilien stellten Kraftfahrzeuge mit Alkoholmotor im September bereits 68% aller Neuzulassungen, und in Indien wurde Anfang Oktober Ethanol aus Zuckerrohr nach einem Verbot im Vorjahr wieder als Treibstoffzusatz zugelassen. Auch im von der Zuckerliberalisierung in der EU bedrohten Mauritius soll nun die Ethanolproduktion angekurbelt werden, während in Kenia die Produktion von Biodiesel anvisiert wird. Und Nicaragua, so wird nun realisiert, schwimmt in einem „Meer von Energie“: Das Potenzial an geothermischer Energie im vulkanischen Westen könnte das verarmte Land sogar in einen Stromexporteur verwandeln. Aber das ist Zukunftsmusik.